Freitag, 23. Mai 2025

Stephan Wunsch, Verrufene Tiere

Fünf-Sterne-Bewertungen finden sich für relativ neu herausgegebene Bücher in der Münchner Onleihe nur selten und das hat mich neugierig werden lassen. Bei Amazon sind es bisher  zwar relativ wenige Leser, die bewertet haben; diese aber ebenfalls mit der Höchstpunktzahl als Durchschnitt und Rezensionen, die sich vor Begeisterung schier überschlagen.

Persönlich vergebe ich ebenfalls mindestens die Bestnote  ;) und werde mir dieses außergewöhnliche Buch - selten genug, wenn ich es schon gelesen habe - wohl auch kaufen. Ich glaube, es lief unter “Sachbuch”. Ich vermute weil die Einsortierer genau wie ich nicht wussten, wo es am richtigsten und passendsten einzusortieren ist. Es sprengt eindeutig die Grenzen der literarischen Genres.

Obwohl ich vor lauter Begeisterung über die Vielfältigkeit der Inhalte, die schöne Sprache, das mit Deutungsansätzen mal literarischer, mal humoriger und dann wieder kombinierter Arten durchsetzte neue Wissen … am liebsten das ganze Buch zitatweise rauskopiert und hier eingestellt hätte … ist vermutlich in diesem Fall weniger mehr. Um es nicht zu zerstückeln und dem Inhalt die Seele zu entreißen. Denn davon hat es - und das sagt eine, die Seelen im Grunde eher anzweifelt - zweifellos reichlich.


Alleine das viele und flüssig zum gutleserlichen Ganzen verwobene Wissen aus unfassbar vielen Gebieten angefangen bei der Literatur von Bibel, diverse andere Schöpfungsmythen über Klassik, Biene Maja, Kriminalliteratur bis SciFi-Romanen über Goethe (natürlich), Brehm, Gotthelf, Sartre, Kierkegaard, London, Vernes, Shelley … und einige mehr … über Psychologie, (Verhaltens-, Evolutions- u.a.)-Biologiezweige, Religion und ach, natürlich auch die Philosophie … bietet ein wahnsinniges Sammelsurium zum Wundern, Lachen, Speichern, nicht-wieder-vergessen-Wollen.

Schon die lange AnhangsListe des Literaturverzeichnisses ist beeindruckend und inspirierend. Mein Kniefall vor der Arbeit, die hier sichtbar drinsteckt und zu ganz und gar eigener Form und Stil verarbeitet wurde. Viel Neues Dazulernen und Erfahren, Lachen, Schmunzeln, Weinen, Seufzen, Grübeln, Wundern, Wiedererkennen und auch mal widersprechend anmerken oder einwerfen Wollen … alles kommt beim Lesen vor.

Hier und da doppelbödige Anwendung des vorher herausgearbeiteten, indem z. B. die (nur?) früher übliche “moralische Wertung” aufgezeigt und im nächsten Atemzug selber angewandt wird. Ist da ein Augenzwinkern sichtbar, denkt der Leser es sich dazu? Stilmittel werden zu Spielmitteln.

Viel Wissen - und besonders dasjenige, das vermutlich unter “unnützes Wissen” zu verbuchen ist, oft besonders erheiternd und staunenswert.

Es gab Inspirationen, die mich alte und wirklich spannende Filme haben angucken lassen über Tiere:


Aber auch über Menschen:



Ich bin - wie oben schon erwähnt - nicht die Einzige, die sich vom Buch Stephan Wunschs (und/oder? Judith Schalanskys? Es tauchen beide Namen auf - beim Zitieren aus dem Buch nur Judith Schalansky, die schon ähnliche Themen in Büchern verarbeitet hat; auf dem Cover Stephan Wunsch, der in seinem Aachener Theater Tiere als Hauptmotiv behandelt, dem Lesen nach) hat begeistern lassen. Hier einige Links zu anderen Besprechnungen:




Ich könnte im Nachhinein kaum sagen, welches der zehn besprochenen Tiere (letztlich waren es mehr denn in den einzelnen Kapiteln verstecken sich auch noch andere Tiere bzw. drängeln sich dazwischen) mich am meisten fasziniert hat. Die Spinne war total spannend, die Fledermaus, die - in ursprünglichen Versionen weiblich und dem Weiblichen zugetan - dem “Vamp” den Namen gab? Geier? Hai? Schlange? Hyäne …? Wer hätte gedacht, dass gerade die Quallen soviel Geheimnisse bergen oder die Kraken?
 
Dachte ich anfangs noch: “HA! meine “Favoriten” der Ekeltiere wie diverse Stechfliegen oder die zu den Spinnen zählenden Zecken sind ja gar nicht dabei ..” .. habe ich mich getäuscht. Auch die tauchen auf und bekommen ihre verdiente Beachtung.

Hier doch ein bisschen zitiert - so ganz ohne kommt mir auch falsch vor:


“Das Männchen der Schwarzen Witwe fesselt seine Partnerin vor dem Liebesspiel; doch sie ist stark, und wehe, sie befreit sich vor der Zeit. Andere bringen sorgsam in Spinnenseide verpackte Geschenke, um sich von hinten zu nähern, während sie sich darüber hermacht, oder warten den Moment der Häutung ab, um ihre nackte Wehrlosigkeit auszunutzen. Gewisse Spinnenmännchen zupfen zart an den Signalfäden, an denen das Weibchen nach Beute horcht, eine wundersame Melodie, um sie herauszulocken. Sie tun alles, um die Spinne davon zu überzeugen, dass es noch ein anderes Glück gibt.


 Und manchmal ist die Verzauberung so groß, dass das Weibchen, bei noch halb geschlossenen Lidern, so lang den Faden verliert, dass der Liebhaber nach dem Akt unversehrt und unverzehrt entkommen kann. Doch oft genug geht es schief, und gar nicht selten misslingt schon die Annäherung, sodass der Spinnenmann gelähmt, betäubt und ausgesaugt wird, bevor er nur sein Anliegen vortragen konnte. Dieses Wunder, meine Freunde, heißt Liebe, und was wäre romantischer als die Bedingungslosigkeit, mit der das Spinnenmännchen seine schlimmste Fressfeindin begehrt und, aller Gefahr trotzend, sich nähert, bebend vor Lust und zitternd vor Furcht, um eines einzigen Glücksmomentes willen – und ach, wissen wir denn, ob sie ihren Lover nicht unter Tränen fraß, der bitteren Notwendigkeit folgend, dass eine werdende Spinnenmutter keine Eiweißration zu verschenken hat? Vielleicht gelobt sie sich, seine Innereien schlürfend, ihn nie zu vergessen. – Dass Liebe verzehrend sein kann, dass Anziehung und Aggression Schwestern sind, dass sich zu ficken und sich zu fressen nur einen Wimpernschlag auseinanderliegen können; diese erregende Spannung kulminiert in der tragisch-erotischen Gestalt der Schwarzen Witwe. — “

Schalansky, Judith. „Verrufene Tiere.“ Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2023, p. 49


*

Geier erinnern uns an den Tod. An den Tod, der immer schon da ist, immer schon da war und uns immer begleiten wird. Ihr Umgang mit dem Tod ist denkbar roh, unsentimental, ohne Mitleid oder Diskretion. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass wir uns mit der Sekunde unseres Todes in nichts weiter als organische Materie verwandeln. Sie sind Atomisten der Tierwelt: Sie zögern keine Sekunde, auch die stolzesten Geistwesen in den Kreislauf der Natur zurückzuführen. — Schalansky, Judith. „Verrufene Tiere.“ Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2023, p. 100


Nichts prägt die menschliche Einstellung zu Geiern mehr als ihre Ernährungsweise. Geier sind im Wesentlichen und vor allem Aasfresser. Bei der Verwertung von Kadavern betreiben die vier in Europa vorkommenden Geierarten eine effektive Arbeitsteilung. Stellte man sich Mönchsgeier, Gänsegeier, Bartgeier und Schmutzgeier bei einem gemeinsamen Festmahl an einem üppigen Aas vor – in der Realität ein seltener, aber nicht ausgeschlossener Fall –, könnte man ihre Unterschiede in Größe, Körperkraft und Ernährungsspezialisierung an der Abfolge des Vortretens ablesen. Die Mönchsgeier beginnen damit, vom Fleisch des Kadavers zu fressen. Dann kümmern sich die etwas kleineren Gänsegeier vornehmlich um die Innereien, indem sie die Bauchdecke aufreißen oder in bereits vorhandene Körperöffnungen eindringen, mit Vorliebe in den Anus. Damit andere ihm nichts wegfressen, hackt und schlingt der Geier in größter Eile; bis zum Kragen verschwindet er dabei im Bauchraum der Leiche. Kommt er wieder hervor, sind Kopf und Hals von Blut und Exkrementen bedeckt. Ihre Wänste sind dann vollgestopft bis an die Grenze der Flugfähigkeit; anderthalb Kilogramm Leichenfleisch und Gedärm kann der Gänsegeier in seinem Kropf wegschleppen. Dass die körperlich überlegenen Bartgeier sich nicht vordrängen, liegt an ihrer Vorliebe für Knochen. Sie können erstaunlich große Bruchstücke ohne Weiteres verschlucken. Für noch größere Knochen hat der Bartgeier eine besondere Technik entwickelt: Er lässt sie aus bis zu siebzig oder achtzig Metern Höhe auf Felsen fallen, bis sie zerbrechen und ihr Knochenmark preisgeben. Dafür muss er das Aufsteigen und Fallenlassen ein Dutzend Mal und öfter wiederholen. Der Bartgeier ergreift auch lebende Schildkröten (von ›Jagen‹ sollte man nicht sprechen, eher von ›Einsammeln‹, denn er bevorzugt sie offenbar wegen ihrer Langsamkeit). Auch sie lässt er aus der Höhe hinunterstürzen, immer wieder, bis ihr Panzer zerplatzt. Sollte stimmen, was vom unglücklichen Tod des Tragödiendichters Aischylos erzählt wird – er soll von einer Schildkröte erschlagen worden sein, die ein Raubvogel im Flug hatte fallen lassen –, dürfte ein Bartgeier dafür verantwortlich gewesen sein. Wenn aber nun Fleisch, Innereien, Haut und Knochen vertilgt sind, bleibt denn dann noch etwas für den kleinsten der vier, den Schmutzgeier? Durchaus, denn der kann fast alles Organische verwerten, auch solches, wogegen frisches Aas noch als Delikatesse anzusehen ist. Das Spektrum des Genießbaren hat er bis hin zu Kot und blutgetränktem Sand erweitert. Überhaupt frisst er Abfälle aller Art und hält sich daher gerne in der Nähe von Menschen auf. — Schalansky, Judith. „Verrufene Tiere.“ Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2023, p. 101.


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Die Zahl der Todesopfer nach Wespenstichen ist vergleichsweise klein, bedenkt man, wie häufig solche Stiche vorkommen. Verglichen mit Quallen oder Schlangen sind Wespen keine profilierten Killer. Ein Wespenstich bedeutet gewöhnlich viel Schmerz um nichts und hat doch einen deutlichen Zweck, selbst wenn die Angreiferin selbst nicht überlebt: Dass du ewig denkst an mich. Und wir haben alle die Lektion gelernt. Jeder Wespenstich dient der kollektiven Erziehung der Warmblütler, auf dass sie Trägerinnen der schwarz-gelben Warnwesten jederzeit mit Respekt begegnen…

….

Wespen sind Mütter. Und doch fehlt ihnen alles, was Menschen sich reflexhaft als mütterlich zu benennen angewöhnt haben. Männlichen Tieren, den Drohnen, gehört beileibe nicht die Hälfte des Himmels. Sie tragen nichts zum Gelingen des Staats bei. Man traut ihnen nicht zu, eine halbwegs gerade Zellenwand zu bauen, für das Wenden und Befächeln der Eier gelten sie als zu ungeschickt, an die Kinder lässt man sie gar nicht erst heran. Teilweise können sie sich nicht einmal selbst ernähren. Sie sind fliegende Samenvorräte, genau das und nicht mehr, und ihre Aufgabe ist die Bereitstellung und Distribution von Erbanlagen. Nur dafür und auch nur bis zur Erfüllung dieser Aufgabe schleppt der Wespenstaat sie augenrollend mit durch. Mit ihnen kopulieren darf eh nur die junge Königin eines Nachbarstaates, schließlich sind sie ja Klone der Königin und hätten im Heimatstaat an Erbgut ohnehin nichts Eigenes beizusteuern. — Schalansky, Judith. „Verrufene Tiere.“ Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2023, p. 135


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Ferdinand Magellan ließ 1521 ein siebenhundert Meter langes Seil flechten und in die Fluten des Pazifik hinabrollen. Es traf nicht auf Grund. Weil Magellan kein längeres Seil mehr hatte, erklärte er den Ozean für unendlich tief — Schalansky, Judith. „Verrufene Tiere.“ Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2023, p. 143




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Dienstag, 20. Mai 2025

Mareike Fallwickl; Dunkelgrün fast Schwarz

Es war der Debütroman von Mareike Fallwickl, für den sie ein Arbeitsstipendium des Bundeskanzleramts von Österreich bekommen hat. Eine gute Wahl, wie ich finde denn Schriftstellerin ist und kann  sie eindeutig. Wobei mir das schon vor einer Weile gelesene Buch (es hat mich sehr angesprochen und daher wollte ich mehr von der Autorin) “Die Wut, die bleibt!” nochmal deutlich stärker imponiert hat. Andererseits: als ein “Erstling” ist er schon überzeugend, dieser Roman über menschliche Abängigkeiten, Verwicklungen und Emotionen aller Art und (Un)Tiefen.

Wobei ich in diesem Fall einigen Kritiken beipflichte, die der Meinung waren, es sei hier und da doch ein bisschen “too much” bzw. streckenweise zu hartkantig, ja übertrieben dick aufgetragen. Besonders die anfänglichen massiven Sexszenen machten auf mich den Eindruck, als müsse sich die Autorin über die möglichst drastisch gewählten Begriffe und Formulierungen die eigenen  schreibenden Hemmungen in diesem Bereich “wegtrainieren” - so quasi als Schreibübung dazu.

Denn sie wirken manchmal etwas künstlich reingequetscht und nicht wirklich zum Fluss der ansonsten eher stimmungsmalenden Handlungen und Gedankengänge passend. 

Die Figuren sind auch weitgehende Charakterextreme. Extrem blass, extrem devot, extrem kaputt oder extremst normal. Was meiner Meinung nach nicht weiter stört weil alles eher dazu dient, Stimmungen zu malen. Die Synästesie eines der beiden Hauptprotagonisten, die auch im Titel Ausdruck findet, ist ein schönes gewähltes Stilmittel, wie ich finde. Stimmungen und Verflechtungen als Farben … gute Idee.

Beim Lesen habe ich an ein Zitat aus einem anderen von mir kürzlich gehörten Buch denken müssen (das ich aber in dem Moment zu faul war mitzunotieren und nun weiß ich nicht mehr, vom wem es war. Denn es war auch dort im Buch schon ein Zitat), das sinngemäß besagte, beim Lesen ginge es weniger darum, sich die Handlung zu merken oder die Inhalte zu kennen sondern vielmehr darum, was dieses Lesen mit dem Leser macht und bei ihm verändert. 

Denn hier wird einiges mit dem Leser gemacht: Stimmungen ausgelöst und sehr oft sind sie dunkel (fast schwarz ;), die sich streckenweise nicht gut aushalten lassen. Also: fand ich jetzt. Wobei mich manchmal auch die “Jugend” daran etwas … gestört hat. Nicht an den Sichten der wirklich Jungen - aber die der auftauchenden nicht mehr jungen Handler- und DenkerInnen … die kam mir schon ab und zu “draufgestülpt” vor aus einer Sicht, der die Erfahrung des Alters schlicht fehlt. Macht ja nix .. aber hier und da konnte ich mich des altklugen “Kann gut sein, dass du das später anders einordnen würdest, meine Liebe” nicht erwehren. 

Manchmal war ich auch kurz davor, abzubrechen. Nicht, weil es schlecht war sondern weil es nicht meine Themen waren und ich im Urlaub irgendwie nicht so wild war auf die dusteren Seiten jugendlicher Protagonisten, die einen selber in dunkle Stimmungen bringen.

Vielleicht lag es ein bisschen an meinen Vorschusslorbeeren aus früherem Buch oder an der Neugierde, der ausreichenden Zeit … dass ich doch komplett gelesen und das letztlich auch nicht bereut habe. Würde auch noch was von ihr lesen wollen … 


🟩◼️

Montag, 12. Mai 2025

Brit Bennett, Was fange ich bloß mit guten weißen Menschen an?


„Ich vertraue keinen einfachen Geschichten, auch solchen nicht, die mir ein gutes Gefühl geben. Am Ende fühlen wir uns alle wohler, wenn wir uns in die Welt zurückziehen, die wir glauben zu kennen. Deswegen ist Literatur zurzeit so wichtig. Sie reißt uns aus unserer Welt heraus und transportiert uns in eine andere.“

Sechs - recht kurze -  Essays zum Thema Rassismus und Diskriminierung aus der sehr analytisch-komplexen mit persönlichen Anteilen verbundenen Sicht einer schwarzen amerikanischen Autorin.

Viel behandelt den typisch amerikanischen Hintergrund der Rassentrennung, Geschichte der Sklaverei, aktuelle rassistische Gewaltvorfälle, ihre eigene Familiengeschichte, Ku-Klux-Klan bis hin zur politischen Lage und die amerikanischen Präsidenten von Bush über Obama bis Trump.

Und obwohl diese typisch amerikanischen Schilderungen auf den ersten Blick nicht übertragbar auf die eigene Welt scheinen, wurde zumindest mir beim Lesen immer wieder auch sehr klar und deutlich vor Augen geführt, dass diese “rassistischen Mikroaggressionen”, diese - oft selbst als wohlmeinend empfundenen Alltagsüberheblichkeiten und Gönnerhaftigkeiten -   universell sind und auch in unserer Gesellschaft den “anderen” gegenüber. Den Dazugekommenen, den unterprivilegierten oder denen, die man auf den ersten Blick wegen des Äußeren dafür hält und es gelegentlich dann auch revidieren muss.  Denen mit einer weniger geschützten Vergangenheit und oft auch Gegenwart als wir selber sie haben und die wir für uns als Selbstverständlichkeit reklamieren. Wenn nicht mit Worten, dann mit spontanen Gedanken und Handlungsabweichungen bei optischen, sprachlichen o. ä. “Abweichungen” des Gegenüber. 

Da wirkt auch bei mir .. ja, was ..? der genetisch eingepflanzte “Peargroup-Code” (ist jetzt kein Zitat aus dem Buch sondern von mir gerade als Wort assoziiert), die Erziehung, die Mikroinfiltration über immer Gesehenes und Gelebtes? Keine Ahnung - aber es ist gar nicht so schlecht, sich das ins Bewusstsein zu holen ab und zu und einen Schritt zurücktretend auf eigene Gedanken und Handlungen zu sehen. Dazu verhilft die Sicht Brit Bennetts in ihren Essays auf jeden Fall.


📚



Samstag, 10. Mai 2025

Nana Oforiatta Ayim, Wir Gotteskinder


Ein irgendwie sehr “intimes” Buch, eine Art “Autofiktionale Erzählung” von Nana Oforiatta Ayim aus vielen Welten und Zwischenwelten, (auch Deutschland gehört dazu)  so kam es mir vor. Kulturgrenzen, Kulturschnittstellen, neue Kulturen in und aus alten. Traditionelles erhalten, neues erschaffen.

Viele Themen greifen hier ineinander und beim Lesen weiß man, dass sich in diesen Themen und Kulturen wie bei einer russischen Puppe mit Puppen in der Puppe immer weitere Themen noch verstecken und nur manchmal zu erahnen sind.

Es geht um ein Leben, das zwischen sehr unterschiedlichen (Kultur)Welten hin und herwechselt, um eine ganz eigene Sicht auf die Kolonialisierungszeit der Afrikanischen bzw. Ghanaischen Geschichte.

Inhaltlich erzählen möchte ich nicht weil ich denke, es würde verfälschen, wenn ich es mit meinen Worten wiederzugeben versuchte. Ans Ende stelle ich wieder einige Zitate aus dem Buch*.

Wie bin ich drauf gekommen? Konkret weiß ich das gar nicht mehr. Lese aber schon seit längerem immer mal gerne auch über den kulturellen und eigenen thematischen Tellerrand hinaus. Spätestens, seit ich 2024 die Essays in “Anders bleiben” (Hrsg. Selma Wels) gelesen habe. Konkret also nicht Bücher “über” andere Kulturen und kulturelle Grenzthemen sondern “von” Menschen - gerne Frauen - aus anderen oder mehreren kulturellen Weltecken. 

Stelle dabei immer mal wieder fest, wie nochmal schwerer es dabei ist, zumindest beim Lesen erstmal wert- und urteilsfrei zu bleiben. Eine Haltung, die ich als sehr gewinnbringend erkannt habe. Die aber umso schwerer durchzuhalten ist, je weiter die Erlebens- und Gedankenwelten der schreibenden Personen von den eigenen verinnerlichten “Wahrheiten” entfernt zu sein scheinen. Da knirscht es innerlich zuweilen schon ordentlich und es gehört ein größerer Schritt in den Zuschauerabstand dazu. Der sich immer lohnt!

Es liest sich besonders, dicht, nah und auch spannend. Hier noch einige Zitate daraus:


Ich war nicht länger ich, sondern ein kleines Mädchen, die Tochter von Yaa, die Enkelin von Gyata und die Cousine von Kojo, dem aufgehenden, wichtigsten Stern der Familie. Während ich so händeschüttelnd an den Menschen vorbeischritt, versuchte ich, die Rolle zu spielen, die diese spezielle Geschichte mir zugewiesen hatte, und wusste, dass die von mir Begrüßten mich als eine der ihren ansahen, eine, die durch Geburt die Hierarchie der Regeln und Sitten kannte, und als Außenseiterin, unvertraut mit deren tieferer Bedeutung. Als wir beim König ankamen, waren meine Wangen verkrampft vom Lächeln, das Korsett meines Kleids eng vom ständigen Verbeugen. Der Raum war heiß und schwül vor starrenden Blicken; ich sehnte mich danach, in einem klaren kühlen Fluss zu schwimmen. Kojo sagte etwas zu dem Mann mit dem goldenen Stab, der sich zum König hinunterbeugte und flüsterte. Kojo wurde nun lauter, sodass ich es hören konnte: »Das ist Maya, die Tochter von Yaa, die Enkelin des Löwen, unsere Schwester.« Der Mann mit dem Stab beugte sich wieder hinunter und flüsterte dem König etwas ins Ohr. Der König nickte langsam und kaum merklich. Ich trat vor und knickste. Machte man das? Ich wendete mich zu Kojo. »Zieh deine Schuhe aus«, raunte er. Ich schlüpfte aus meinen Plateauschuhen und beugte den Kopf. Als ich wieder aufsah, lächelte der König. »Unsere Schwester«, sagte er leise. »Unsere Schwester«, wiederholte der Mann mit dem Stab. — Oforiatta Ayim, Nana. „Wir Gotteskinder.“ Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, 2020-12-18T11:41:03Z, p. 141


»Du lachst, aber es ist nicht zum Lachen. Unser äußerst wichtiges Schwert, unsere Krone, unser Königsschemel – die ganzen Schlüssel zur Macht unseres Königreichs – rotten vor sich hin in den Verliesen von Museen, von Sammlern, irgendwo in Abrokyere, ohne dass man von ihrem spirituellen Wert weiß. Und du wunderst dich, dass unsere Macht geschwunden ist? Dass unser Land sich in den eigenen Schwanz beißt?« Er schrie, so laut er konnte, und das Tempo des Autos machte mich schwindlig. — Oforiatta Ayim, Nana. „Wir Gotteskinder.“ Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, 2020-12-18T11:41:03Z, p. 147


… »Die Welt, in der du aufgewachsen bist …« »Du bist auch dort aufgewachsen.« »… bringt dir bei, dass die materielle Welt um dich herum alles ist, was existiert. Hier wissen wir, dass unsere Ahnen mit uns leben, dass die Grenze, die die Lebenden und die Toten voneinander trennt, nicht existiert.« »Und findest du es nicht ein wenig altmodisch, das ganze Verbeugen und Katzbuckeln vor einer Person?« »Altmodisch? Du hältst Geschichte für altmodisch? Du hältst Fundamente für altmodisch? Du hältst das kulturelle Erbe für altmodisch? Die Menschen kehren heim. Sie legen ihren Streit bei. Sie begegnen sich und fangen an, sich selbst und einander wieder kennenzulernen. Sie lernen. Die Ältesten geben ihr Wissen an die Jungen weiter. Ich habe fast alles, was ich weiß, bei den afahyε gelernt. Du weißt das. Man sagt uns, wir hätten keine Geschichte, wir wären Bäume, die ohne Wurzeln aus der Erde wachsen, und hier rufen wir es zum Himmel und strecken unsere Äste aus, wohin sie angeblich nicht wachsen können. Und das nennst du altmodisch?« — Oforiatta Ayim, Nana. „Wir Gotteskinder.“ Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, 2020-12-18T11:41:03Z, p. 147


Mein Großvater hatte alle seine dreiundvierzig Frauen aus königlichem Geschlecht gewählt. Ihre Blutlinien waren es, die ihren Kindern die Autorität verliehen, vor dem Staatsrat und dem Gericht Städte und Dörfer zu repräsentieren. Die Bildung, für die sie der Vater weit in die Welt hinaus schickte, verlieh ihnen das Mandat. Er wusste, dass nicht nur er, sondern auch seine Kinder die alten Gebräuche neben den neuen beherrschen mussten, doch in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Tod und dem Eingang ins Asamandeefoo, ins Land der Ahnen, hatte sich das Schicksal seiner Pläne bemächtigt, und nun sah es so aus, als sei es an uns – uns allen –, sie neu auszurichten. Meine Mutter empfand, sie habe versagt – nicht nur ihm gegenüber, sondern auch vor der Aufgabe, die sie durch ihre Herkunft hatte. In jeder Generation unserer Familie gab es immer einen, der auserwählt war, Wissen von den frühesten Epochen zu besitzen, zu sehen, was andere nicht sehen konnten: ein nyame akwadaa, ein Gotteskind, das das Flüstern des Universums deutlicher hören konnte als den Lärm der Welt ringsum, deutlicher als die Stimme der Ahnen oder sogar der Geschichte — Oforiatta Ayim, Nana. „Wir Gotteskinder.“ Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, 2020-12-18T11:41:03Z, p. 161— 



»David hat für Michael einige Verbindungen spielen lassen, um ihm eine Diamantenkonzession in Upper East zu verschaffen.« »Du meinst die Verbindungen seines Vaters? Nennt man das nicht Korruption?« »Ich denke, das nennt man, das Beste aus deinen Möglichkeiten machen, Süße, und es ist ein universelles Phänomen. Außerdem macht hier keiner genug.« — Oforiatta Ayim, Nana. „Wir Gotteskinder.“ Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, 2020-12-18T11:41:03Z, p. 132



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* Wie es scheint, ist inzwischen in der App “Bluefirereader”, die ich zum Lesen geliehener digitaler Bücher nutze, eine Zitierfunktion fest integriert, die es erlaubt, Zitate unter schon zugefügter Zitierstelle zu extrahieren und anderswo einzufügen.. Was mich freut. Abschreiben ist ja doch zweilen etwas mühsam und Screenshots stören das Beitragsbild


Montag, 5. Mai 2025

Rónán Hession, Leonard und Paul

Oder: “Das Märchen, das man sich von seiner eigenen Rolle selbst erzählt”

Was es mit dem “Lieblingsbuch der Unabhängigen” auf sich hat, habe ich auch über dieses Buch bzw. meine Recherchen dazu erfahren. Interessant! Schon deshalb hat es sich gelohnt. Mein Dank also an Doris für die Empfehlung dieses Buches!

Aber zum Buch selber:  viele der Ideen und anklingenden Themen darin gefallen mir ausgesprochen gut. Schon, dass die beiden Haupt-Protagonisten in sich gekehrte Charaktere mit Zügen aus dem .. ich würde mich mal ohne Schubladen bedienen zu wollen  zu behaupten trauen .. “autistischen Spektrum” handelt, ist für Romane erstmal eher ungewöhnlich (wobei ich schon einige gute gelesen habe, die das ebenfalls taten).  Schönes Thema mit teilweise auch sehr poetischer Umsetzung. Ab und zu musste ich sehr lachen; es gibt erheiternde Abschnitte.

Streckenweise liest es sich leicht und fluffig; persönlich habe ich an mehreren Stellen und vor allem gleich am Anfang mit auch thematischen Widerständen arg  kämpfen müssen, die hier nicht näher ausgeführt werden sollen.

Auch die gleichzeitige und im Grunde viel ausuferndere Darstellung des üblichen “Small-Talk-Oberflächen-Daseins” der “Normwelt” fand ich hier und da mühsam mitzugehen. Ich sag’ nur “Hochzeitsvorbereitungen” *ächz*. Gelegentlich war’s mir auch zu kitschumflort.

In diesem Fall war das Kopieren aus dem eBook nicht unterbunden sondern es gab im Gegenteil sogar die Möglichkeit, gleich korrekte Zitate zu generieren und weil ich diesen Umstand genutzt habe, hier einige daraus,:

Die Arbeit passte zu ihm, er interessierte sich für alles, das Interesse verdiente, und spielte lieber eine Nebenrolle in der Geschichte der anderen, als in deren Mittelpunkt zu stehen. Außerdem vermittelte ihm der Status als Underdog, ungenannt und unbesungen, eine gewisse Glaubwürdigkeit, selbst wenn sein Einkommen geringer ausfiel, als er es sich in seinem Alter gewünscht hätte — Hession, Rónán. „Leonard und Paul.“ DUMONT Buchverlag, p. 14



die Kunst besteht darin, genau zu erkennen, wie viel von der Welt man in sein Leben lassen kann, ohne davon überwältigt zu werden — Hession, Rónán. „Leonard und Paul.“ DUMONT Buchverlag, p. 25


Sein Bestes zu geben fiel ihm schwer, denn er wusste genau, was passieren würde: Man würde seine Ideen ablehnen, ohne sie zu verstehen, oder sie übernehmen, um sie als die eigenen auszugeben. Er versuchte, sich auf den einstigen Rat seiner Mutter zu besinnen, seine Arbeit zwar ernst, aber nie persönlich zu nehmen. — Hession, Rónán. „Leonard und Paul.“ DUMONT Buchverlag, p. 27


In Wahrheit sind gerechte Strafen in der Geschichte der Menschheit aber leider Mangelware. — Hession, Rónán. „Leonard und Paul.“ DUMONT Buchverlag, p. 28


Doch wenn man jemanden liebt, erkennt man oft nicht, wann aus Fürsorglichkeit Bevormundung wird. Wie aufrichtig sie waren, zeigte sich auch daran, dass jeder von ihnen insgeheim zu hinterfragen begann, ob das Ausmaß ihrer Einmischung angemessen war. Wie kann man sicher sein, dass man einen positiven Einfluss auf das Leben des anderen hat? Woher will man wissen, ob das Leben des anderen nicht genauso gut weiterläuft, wenn man sich nicht einmischt? Wann wird aus Halten Festhalten? Nur weil Paul sich nicht gegen ihre Bemühungen wehrte, bewies das noch lange nicht, dass sie ihm damit halfen. Es konnte genauso gut sein, dass seine Unselbstständigkeit nicht der Grund für ihre Bevormundung war, sondern deren Folge. — Hession, Rónán. „Leonard und Paul.“ DUMONT Buchverlag, p. 51



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Freitag, 2. Mai 2025

Sigrid Nunez, Die Verletzlichen


Daraus mitgeschrieben (weil gefiel mir):

Mir gefällt der Eissplitter im Herzen, den Graham Greene bei jedem Schriftsteller für unabdingbar hielt. Ich habe ihn. Und das Quentchen Dummheit, ohne das laut Flannery O’ Connor kein Schriftsteller auskommt. Das habe ich auch. Mir gefällt, dass Alan Bennett sagte: “Für einen Schriftsteller ist nie irgendetwas so schlimm wie für andere Leute. Weil es - so schrecklich es auch sein mag - immer nützlich sein kann.”


Ein Buch über das Schreiben, das Älterwerden, menschliche Begegnungen, sich öffnen oder auch nicht, ein bisschen auch über psychoaktive Drogen … Die Geschichte einer Schriftstellerin in Ausschnitten, in denen auch viele andere unterschiedliche Menschen  - und ein Papagei - auftauchen.

Und wieder einmal ist eins der Themen der Umgang mit der (Schreib)Blockade, die während der Corona-Epidemie - verständlicherweise? - die meisten Schreibenden und Kunstschaffenden befiel. Es gibt Aspekte, die mich auch diesmal ein Fünkchen genervt haben daran. Inzwischen sehe ich aber ein, dass es sogar eine eigene Idee ist, die verschiedenen Wirklichkeits-Perspektiven aus dieser Zeit auch urteilsfrei anzuschauen versuchen. Es erscheint ein buntes Kaleidoskop an Lebenswirklichkeiten.

Wobei dieses Thema in diesem Fall keine Hauptrolle spielt und bei Bedarf übergangen werden kann. 

Wie ich darauf aufmerksam wurde, weiß ich einmal erneut nicht mehr. Aber es lag schon länger auf meinem Onleihe-Merkzettel, vor dem Urlaub entleihbar gewesen, was ich tat und nun - kurz vor Ablauf der Leihdauer - mochte ich ein Hörbuch mitnehmen zum Strandspaziergang. Die EarPods so eingestellt, dass auch das Meeresrauschen als Hintergrund noch zu hören war. Wollte ich ausprobieren, ob dann auch Inhalt hängenbleibt und kann es zumindest aus meiner Sicht nur empfehlen. 

Zwei mehrere Stunden lange Spaziergänge wurden es mit diesem gut 5h lang laufenden Hörbuch - gelesen von einer mir angenehmen Frauenstimme* - am Strand und dann zum Teil noch abends im Bett des Mobils liegend. Es passierte für mich nichts “bahnbrechendes” aber ich kam gut in den Flow des Zuhörens. Hielt gelegentlich an, setzte mir Marker an Stellen, die ich später nochmal anhören und auch ausschnittsweise mitschreiben wollte für diesen Bericht.

Viele interessante Zitate aus der Weltliteratur sind immer mal wieder anlässlich bestimmter Themen, die angegangen werden, zu lesen bzw. zu hören. Betrachtungen über unterschiedliche Aspekte des Schreibens, letzte Worte von unterschiedlichen Künstlern aus unterschiedlichen Zeiten (hat Beethoven wirklich gesagt: “Im Himmel werde ich hören können.”?) und damit viele Anregungen für weitere Stöber- und Leseideen.

“In fast jedem langem Buch, das ich lese, sehe ich ein kurzes, das sich vor der Arbeit drückt.”

“Mehr noch als Hoffnung hilft uns Humor, die Dinge zu überstehen.”


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*warum auch immer .. aber in der Regel kann ich mich besser auf Männerstimmen - nicht alle -  konzentrieren bzw. reagiert mein Körper auf die meisten - nicht auf alle - Frauenstimmen mit Widerstand. Oder dem Problem, nicht zuhören zu können sondern schnell abzuschweifen.  Angeleitete Meditationen z. B. gehen mit hellen Frauenstimmen gar nicht. Gesangsstimmen, Lesungen … es kommt selten vor, dass Frauenstimmen für mich über eine längere Zuhördauer angenehm sind. Wenn doch mal, dann sind es die sonoren, tiefen, vollen. Sopran ist echt nix für mich. Macht mir unangenehm Gänsehaut.