Freitag, 23. Mai 2025

Stephan Wunsch, Verrufene Tiere

Fünf-Sterne-Bewertungen finden sich für relativ neu herausgegebene Bücher in der Münchner Onleihe nur selten und das hat mich neugierig werden lassen. Bei Amazon sind es bisher  zwar relativ wenige Leser, die bewertet haben; diese aber ebenfalls mit der Höchstpunktzahl als Durchschnitt und Rezensionen, die sich vor Begeisterung schier überschlagen.

Persönlich vergebe ich ebenfalls mindestens die Bestnote  ;) und werde mir dieses außergewöhnliche Buch - selten genug, wenn ich es schon gelesen habe - wohl auch kaufen. Ich glaube, es lief unter “Sachbuch”. Ich vermute weil die Einsortierer genau wie ich nicht wussten, wo es am richtigsten und passendsten einzusortieren ist. Es sprengt eindeutig die Grenzen der literarischen Genres.

Obwohl ich vor lauter Begeisterung über die Vielfältigkeit der Inhalte, die schöne Sprache, das mit Deutungsansätzen mal literarischer, mal humoriger und dann wieder kombinierter Arten durchsetzte neue Wissen … am liebsten das ganze Buch zitatweise rauskopiert und hier eingestellt hätte … ist vermutlich in diesem Fall weniger mehr. Um es nicht zu zerstückeln und dem Inhalt die Seele zu entreißen. Denn davon hat es - und das sagt eine, die Seelen im Grunde eher anzweifelt - zweifellos reichlich.


Alleine das viele und flüssig zum gutleserlichen Ganzen verwobene Wissen aus unfassbar vielen Gebieten angefangen bei der Literatur von Bibel, diverse andere Schöpfungsmythen über Klassik, Biene Maja, Kriminalliteratur bis SciFi-Romanen über Goethe (natürlich), Brehm, Gotthelf, Sartre, Kierkegaard, London, Vernes, Shelley … und einige mehr … über Psychologie, (Verhaltens-, Evolutions- u.a.)-Biologiezweige, Religion und ach, natürlich auch die Philosophie … bietet ein wahnsinniges Sammelsurium zum Wundern, Lachen, Speichern, nicht-wieder-vergessen-Wollen.

Schon die lange AnhangsListe des Literaturverzeichnisses ist beeindruckend und inspirierend. Mein Kniefall vor der Arbeit, die hier sichtbar drinsteckt und zu ganz und gar eigener Form und Stil verarbeitet wurde. Viel Neues Dazulernen und Erfahren, Lachen, Schmunzeln, Weinen, Seufzen, Grübeln, Wundern, Wiedererkennen und auch mal widersprechend anmerken oder einwerfen Wollen … alles kommt beim Lesen vor.

Hier und da doppelbödige Anwendung des vorher herausgearbeiteten, indem z. B. die (nur?) früher übliche “moralische Wertung” aufgezeigt und im nächsten Atemzug selber angewandt wird. Ist da ein Augenzwinkern sichtbar, denkt der Leser es sich dazu? Stilmittel werden zu Spielmitteln.

Viel Wissen - und besonders dasjenige, das vermutlich unter “unnützes Wissen” zu verbuchen ist, oft besonders erheiternd und staunenswert.

Es gab Inspirationen, die mich alte und wirklich spannende Filme haben angucken lassen über Tiere:


Aber auch über Menschen:



Ich bin - wie oben schon erwähnt - nicht die Einzige, die sich vom Buch Stephan Wunschs (und/oder? Judith Schalanskys? Es tauchen beide Namen auf - beim Zitieren aus dem Buch nur Judith Schalansky, die schon ähnliche Themen in Büchern verarbeitet hat; auf dem Cover Stephan Wunsch, der in seinem Aachener Theater Tiere als Hauptmotiv behandelt, dem Lesen nach) hat begeistern lassen. Hier einige Links zu anderen Besprechnungen:




Ich könnte im Nachhinein kaum sagen, welches der zehn besprochenen Tiere (letztlich waren es mehr denn in den einzelnen Kapiteln verstecken sich auch noch andere Tiere bzw. drängeln sich dazwischen) mich am meisten fasziniert hat. Die Spinne war total spannend, die Fledermaus, die - in ursprünglichen Versionen weiblich und dem Weiblichen zugetan - dem “Vamp” den Namen gab? Geier? Hai? Schlange? Hyäne …? Wer hätte gedacht, dass gerade die Quallen soviel Geheimnisse bergen oder die Kraken?
 
Dachte ich anfangs noch: “HA! meine “Favoriten” der Ekeltiere wie diverse Stechfliegen oder die zu den Spinnen zählenden Zecken sind ja gar nicht dabei ..” .. habe ich mich getäuscht. Auch die tauchen auf und bekommen ihre verdiente Beachtung.

Hier doch ein bisschen zitiert - so ganz ohne kommt mir auch falsch vor:


“Das Männchen der Schwarzen Witwe fesselt seine Partnerin vor dem Liebesspiel; doch sie ist stark, und wehe, sie befreit sich vor der Zeit. Andere bringen sorgsam in Spinnenseide verpackte Geschenke, um sich von hinten zu nähern, während sie sich darüber hermacht, oder warten den Moment der Häutung ab, um ihre nackte Wehrlosigkeit auszunutzen. Gewisse Spinnenmännchen zupfen zart an den Signalfäden, an denen das Weibchen nach Beute horcht, eine wundersame Melodie, um sie herauszulocken. Sie tun alles, um die Spinne davon zu überzeugen, dass es noch ein anderes Glück gibt.


 Und manchmal ist die Verzauberung so groß, dass das Weibchen, bei noch halb geschlossenen Lidern, so lang den Faden verliert, dass der Liebhaber nach dem Akt unversehrt und unverzehrt entkommen kann. Doch oft genug geht es schief, und gar nicht selten misslingt schon die Annäherung, sodass der Spinnenmann gelähmt, betäubt und ausgesaugt wird, bevor er nur sein Anliegen vortragen konnte. Dieses Wunder, meine Freunde, heißt Liebe, und was wäre romantischer als die Bedingungslosigkeit, mit der das Spinnenmännchen seine schlimmste Fressfeindin begehrt und, aller Gefahr trotzend, sich nähert, bebend vor Lust und zitternd vor Furcht, um eines einzigen Glücksmomentes willen – und ach, wissen wir denn, ob sie ihren Lover nicht unter Tränen fraß, der bitteren Notwendigkeit folgend, dass eine werdende Spinnenmutter keine Eiweißration zu verschenken hat? Vielleicht gelobt sie sich, seine Innereien schlürfend, ihn nie zu vergessen. – Dass Liebe verzehrend sein kann, dass Anziehung und Aggression Schwestern sind, dass sich zu ficken und sich zu fressen nur einen Wimpernschlag auseinanderliegen können; diese erregende Spannung kulminiert in der tragisch-erotischen Gestalt der Schwarzen Witwe. — “

Schalansky, Judith. „Verrufene Tiere.“ Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2023, p. 49


*

Geier erinnern uns an den Tod. An den Tod, der immer schon da ist, immer schon da war und uns immer begleiten wird. Ihr Umgang mit dem Tod ist denkbar roh, unsentimental, ohne Mitleid oder Diskretion. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass wir uns mit der Sekunde unseres Todes in nichts weiter als organische Materie verwandeln. Sie sind Atomisten der Tierwelt: Sie zögern keine Sekunde, auch die stolzesten Geistwesen in den Kreislauf der Natur zurückzuführen. — Schalansky, Judith. „Verrufene Tiere.“ Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2023, p. 100


Nichts prägt die menschliche Einstellung zu Geiern mehr als ihre Ernährungsweise. Geier sind im Wesentlichen und vor allem Aasfresser. Bei der Verwertung von Kadavern betreiben die vier in Europa vorkommenden Geierarten eine effektive Arbeitsteilung. Stellte man sich Mönchsgeier, Gänsegeier, Bartgeier und Schmutzgeier bei einem gemeinsamen Festmahl an einem üppigen Aas vor – in der Realität ein seltener, aber nicht ausgeschlossener Fall –, könnte man ihre Unterschiede in Größe, Körperkraft und Ernährungsspezialisierung an der Abfolge des Vortretens ablesen. Die Mönchsgeier beginnen damit, vom Fleisch des Kadavers zu fressen. Dann kümmern sich die etwas kleineren Gänsegeier vornehmlich um die Innereien, indem sie die Bauchdecke aufreißen oder in bereits vorhandene Körperöffnungen eindringen, mit Vorliebe in den Anus. Damit andere ihm nichts wegfressen, hackt und schlingt der Geier in größter Eile; bis zum Kragen verschwindet er dabei im Bauchraum der Leiche. Kommt er wieder hervor, sind Kopf und Hals von Blut und Exkrementen bedeckt. Ihre Wänste sind dann vollgestopft bis an die Grenze der Flugfähigkeit; anderthalb Kilogramm Leichenfleisch und Gedärm kann der Gänsegeier in seinem Kropf wegschleppen. Dass die körperlich überlegenen Bartgeier sich nicht vordrängen, liegt an ihrer Vorliebe für Knochen. Sie können erstaunlich große Bruchstücke ohne Weiteres verschlucken. Für noch größere Knochen hat der Bartgeier eine besondere Technik entwickelt: Er lässt sie aus bis zu siebzig oder achtzig Metern Höhe auf Felsen fallen, bis sie zerbrechen und ihr Knochenmark preisgeben. Dafür muss er das Aufsteigen und Fallenlassen ein Dutzend Mal und öfter wiederholen. Der Bartgeier ergreift auch lebende Schildkröten (von ›Jagen‹ sollte man nicht sprechen, eher von ›Einsammeln‹, denn er bevorzugt sie offenbar wegen ihrer Langsamkeit). Auch sie lässt er aus der Höhe hinunterstürzen, immer wieder, bis ihr Panzer zerplatzt. Sollte stimmen, was vom unglücklichen Tod des Tragödiendichters Aischylos erzählt wird – er soll von einer Schildkröte erschlagen worden sein, die ein Raubvogel im Flug hatte fallen lassen –, dürfte ein Bartgeier dafür verantwortlich gewesen sein. Wenn aber nun Fleisch, Innereien, Haut und Knochen vertilgt sind, bleibt denn dann noch etwas für den kleinsten der vier, den Schmutzgeier? Durchaus, denn der kann fast alles Organische verwerten, auch solches, wogegen frisches Aas noch als Delikatesse anzusehen ist. Das Spektrum des Genießbaren hat er bis hin zu Kot und blutgetränktem Sand erweitert. Überhaupt frisst er Abfälle aller Art und hält sich daher gerne in der Nähe von Menschen auf. — Schalansky, Judith. „Verrufene Tiere.“ Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2023, p. 101.


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Die Zahl der Todesopfer nach Wespenstichen ist vergleichsweise klein, bedenkt man, wie häufig solche Stiche vorkommen. Verglichen mit Quallen oder Schlangen sind Wespen keine profilierten Killer. Ein Wespenstich bedeutet gewöhnlich viel Schmerz um nichts und hat doch einen deutlichen Zweck, selbst wenn die Angreiferin selbst nicht überlebt: Dass du ewig denkst an mich. Und wir haben alle die Lektion gelernt. Jeder Wespenstich dient der kollektiven Erziehung der Warmblütler, auf dass sie Trägerinnen der schwarz-gelben Warnwesten jederzeit mit Respekt begegnen…

….

Wespen sind Mütter. Und doch fehlt ihnen alles, was Menschen sich reflexhaft als mütterlich zu benennen angewöhnt haben. Männlichen Tieren, den Drohnen, gehört beileibe nicht die Hälfte des Himmels. Sie tragen nichts zum Gelingen des Staats bei. Man traut ihnen nicht zu, eine halbwegs gerade Zellenwand zu bauen, für das Wenden und Befächeln der Eier gelten sie als zu ungeschickt, an die Kinder lässt man sie gar nicht erst heran. Teilweise können sie sich nicht einmal selbst ernähren. Sie sind fliegende Samenvorräte, genau das und nicht mehr, und ihre Aufgabe ist die Bereitstellung und Distribution von Erbanlagen. Nur dafür und auch nur bis zur Erfüllung dieser Aufgabe schleppt der Wespenstaat sie augenrollend mit durch. Mit ihnen kopulieren darf eh nur die junge Königin eines Nachbarstaates, schließlich sind sie ja Klone der Königin und hätten im Heimatstaat an Erbgut ohnehin nichts Eigenes beizusteuern. — Schalansky, Judith. „Verrufene Tiere.“ Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2023, p. 135


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Ferdinand Magellan ließ 1521 ein siebenhundert Meter langes Seil flechten und in die Fluten des Pazifik hinabrollen. Es traf nicht auf Grund. Weil Magellan kein längeres Seil mehr hatte, erklärte er den Ozean für unendlich tief — Schalansky, Judith. „Verrufene Tiere.“ Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2023, p. 143




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