- Komm dahin, wo es still ist (eBook)
Das Buch enthält persönliche aber auch analytisch-erzählend-annähernde Auszüge aus dem Briefwechsel eines einerseits extrem unterschiedlichen Paares, das andererseits viele Gemeinsamkeiten miteinander teilt: Fluchthintergründe aus unterschiedlichen Gesellschaften in anderen Generationen. Aufwachsen ohne Verwurzelung und Sicherheit, erzwungene Eigenständigkeit weit über das gesellschaftliche “Normalmaß” hinaus.
Mir persönlich waren die Aspekte am faszinierendsten, wie es ein Paar ohne gemeinsame Hauptsprache schafft, derartig auch emotionale, lebensbedeutende und Differenzen überwindende Aspekte auf einer emotional tief gehenden achtungsvollen Sprachebene zu behandeln - und dabei auch Übersetzungsprogramme und KI zum Einsatz kommen.
Der zweite mir nahe gehende Punkt waren die vielen Welten, Gesellschaften und Lebensformen, die immer auch parallel nebeneinander stattfinden. Neben mir stattgefunden haben; zeitweise sogar mit faktischen Berührungspunkten der etwas stärkeren Art, die trotzdem nicht automatisch zum umfassenden Verständnis und füreinander und gegenseitigen Sehen und Begreifen auf beiden Seiten geführt haben. Manchmal sogar fast im Gegenteil.
Diese Thematiken waren es, die sich mir - auch persönlich - auftaten:
- Heimat / Verwurzelung (bzw. das Fehlen davon)
- Familien(ver)bindungen, -dynamiken
- Stellenwert gemeinsamer Erinnerungen
- Bedeutung der Sprache in der Liebe
- Erwartungen an (andere) Gesellschaften / Gesellschaftsformen
- (überzogene?) Hoffnungen auf Mitmenschlichkeit
- Menschsein überhaupt und ansich
- Bildung von Gruppen( -denken, -regeln …) und Abgrenzungsverhalten
- ……
Alle persönlichen Kriege, die wir durchlebt haben oder die ich durchlebt habe, gaben mir zwar mehr Stärke, nahmen mir aber auch Empathie für die Verluste anderer. Lass mich dir ein Beispiel geben: Es macht mich nervös, wenn mich ein enger Freund anruft und mir mitteilt, seine Mutter, sein Vater, seine Schwester oder sein Bruder sei gestorben, und darauf eine emotionale Reaktion erwartet. Ich habe nämlich kein Problem mit der Vorstellung vom Tod, weder philosophisch noch psychisch. Was der Krieg mich gelehrt hat, ist, mich mit dem Tod, mit meinem und dem der anderen, zu versöhnen. Jede Nacht gingen wir in einen Keller, den wir als Bunker nutzten. Wenn die abendlichen Bombardierungen aufhörten, gingen wir schlafen und am nächsten Tag begruben wir die, die in der Nacht getötet wurden. Wir setzten unseren Alltag fort und abends, bevor der Beschuss wieder losging, sangen wir und improvisierten aus einfachen Zutaten wie Linsen und Bulgur irgendwelche Süßspeisen. -— Katlesh, Ahmad. „Komm dahin, wo es still ist.“ Rowohlt E-Book, p. 39
… meine Oma in Vietnam starb …. Ich habe sie nie in meinem Leben gesehen und sollte sie auch jetzt nicht sehen. Nicht in meinen Träumen, nicht als Geist, einfach gar nicht. Unsere Familiengeschichte hatte uns noch vor meiner Geburt auseinandergerissen und ich hatte nichts von ihr, in keiner Gestalt. Trotzdem hinterließ sie ein Loch. Ich kann es nicht genauer beschreiben oder lokalisieren. Ich weiß nur: In diesem Loch sind sie und so viele andere Personen und Geschichten, und ich habe keinen Zugang zu ihnen. Während also alle so andächtig mit ihren Räucherstäbchen am Grab standen, folgten meine Augen nur den Rauchschwaden ins Nichts. Ich starrte ins Leere, bis ich gar nichts mehr sah und irgendwer mir einen Hinweis gab, dass wir zurückgehen sollten. Ich denke oft an die Szene, sie kommt mir immer wieder, aber ich weiß nicht, warum und wohin damit.Man kann in der Leere keine Ordnung schaffen. Man kann eine echte Ordnung nur schaffen, wenn es sie schon vorher gab, wenn man an etwas anknüpfen kann, wenn man einordnen kann. Alles andere ist ein Herumtasten, ein Neuaufbau, der keinen Regeln folgen muss als jenen, die man in dem Prozess schafft. — Katlesh, Ahmad. „Komm dahin, wo es still ist.“ Rowohlt E-Book, p. 88
Flucht und Migration, das wurde mir in den Wochen und Monaten darauf einmal mehr klar, sind mehr als eine Bewegung von einem Land ins andere. Sie sind brutale Brüche mit der eigenen Biografie, mit der eigenen Familie, mit der eigenen Identität. Der Körper scheint in Sicherheit, aber es gibt mehr als körperliche Verletzungen. Es gibt Wunden, die sich schwer begreifen lassen, wenn man sie nicht selbst in sich trägt. Wunden, die bis in die nächsten Generationen wirken. Ich glaube nicht, dass Zeit alle Wunden heilt. — Katlesh, Ahmad. „Komm dahin, wo es still ist.“ Rowohlt E-Book, p. 124
Ich möchte dir nur sagen, dass ich bei dir bin, auch wenn ich es vielleicht nicht auf die Weise bin, die du dir wünschst. Dass meine Stille keine Distanz ist, sondern eine Einladung. Dass auch du dahin kommen kannst, wo es still ist. Dass du das darfst. Dass du nicht durchatmen musst, sondern durchatmen darfst. — Katlesh, Ahmad. „Komm dahin, wo es still ist.“ Rowohlt E-Book, p. 148
Ich bin gerade nicht gern ein Mensch, wenn der Mensch das Gegenstück zur Natur sein soll …. Ich habe keine Energie mehr, um meine oder anderer Menschen Menschlichkeit zu beweisen. Ich weiß nicht, was ich noch sagen und schreiben kann. Wie konnten wir wieder an den Punkt gelangen, an dem die Existenz von Menschenleben, die uns anders erscheinen, verhandelbar ist?…
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Ich öffnete mich – weil ich dachte, dass sich die Gesellschaft mir öffnete. War das ein Irrglaube?
🇸🇾🇩🇪🇻🇳
Liebe Lizzy,
AntwortenLöschenlustig, ich wäre bei dem Titel nie und nimmer auf einen Briefwechsel und die darin enthaltenen Themen gekommen! Aber diese Ausgangslage der scheinbar kaum zu überwindenden Unterschiede klingt spannend.
HA, Doris - das ist lustig oder zumindest interessant, dass du dir auch was völlig anderes unter dem Buch vorgestellt hast. Ging mir nämlich auch so! Ich weiß aber nicht mehr, in welcher Reihenfolge ich das dachte: ob zuerst das Interesse am realen Buch stand oder ich den Titel interessant fand und es “trotzdem” spannend genug zu werden versprach, dass es auf der Merkliste landete. Ich weiß nämlich nicht mehr, warum und wann es das tat. Aber ich weiß, dass ich ebenfalls dachte: “Der Titel passt irgendwie so überhaupt nicht. Da denkt doch jeder an so einen spirituellen Ratgeber.”
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